Karlsruhe 2008: Bericht von Martin Kessler

Martin Kessler

Am Wochenende des 8. und 9. März 2008 fand zum achten Mal der BAG-Wettbewerb in Karlsruhe statt. Im Unterschied zu den Vorjahren hatten sich mit 49 Einzelanmeldungen deutlich weniger Teilnehmer eingefunden. Die Organisatoren Andy Fluck und Klaus Linhart leisteten wiederum vorzügliche Arbeit. In konzeptioneller Hinsicht gewannen sie aus der numerischen Schwäche eine organisatorische Stärke, indem sie den zeitlichen Ablauf so gestalteten, daß kein Event parallel zu einem anderen lag. Jeder Teilnehmer hatte so die Chance, alle anderen Wettbewerbe zu hören. Zumindest am Samstag war das Publikum in der Aula des Bismarck-Gymnasiums eines der größten, das ich bisher dort gesehen habe. Auch meine beiden Kollegen in der Bewertung der Piping-Events, Colin Roy MacLellan und Jenny Hazzard, zeigten sich von der zeitweiligen Präsenz des Publikums beeindruckt. Das Bild der Aula kontrastierte auf erfrischende Weise dem einiger schottischer indoor-Wettbewerbe, die vor nahezu leeren Stuhlreihen stattfinden.

Eine Einschränkung fand die vertraute Atmosphäre der Aula noch am Samstagvormittag auf überraschende Weise. Bei dem harmlosen Versuch einer der Organisatoren, ein leicht geöffnetes Fenster mit Hilfe der Schaltzentrale zu schließen, brach der am Kopfende der Bühne unterhalb der Decke montierte Steuerungsmotor aus seiner Verankerung und stürzte zusammen mit dem halbrunden Fenster auf die für Bühnenstrahler montierte Metallkonstruktion. Im Laufe des Tages wurde die herabklaffende Fensterhälfte durch ein weiteres Metallgerüst stabilisiert. Nachdem bekannt wurde, daß schon vor zwei Wochen die markanten Glaslampen der Aula durch Kugeln aus Plastik ersetzt worden waren, um die Gewichtsbelastung der Decke zu reduzieren, konnte man verschiedentlich Diskussionen über den Niedergang des deutschen Bildungssystem hören. Der Organisator, der nach bestem Wissen und Gewissen den einschlägigen Knopf gedrückt hatte, war schließlich mit den Worten zu vernehmen: „Man kann seine Kinder wirklich nicht mehr auf eine staatliche Schule schicken“. Für den Wettbewerb wichtig war, daß aus dem Windhauch, der durch das Schließen des Fensters hatte vermieden werden sollen, ein starker Zug geworden war, der besonders in den Abendstunden die Raumtemperatur empfindlich herabsetzte. Zumindest klimatisch hatte sich eine gewisse Annäherung an schottische outdoor-Wettbewerbe vollzogen.

Das Angebot an Einzelwettbewerben war mit 19 Events breit gefächert. 14 davon galten dem Solo-Piping, das sich an beiden Tagen auf fünf Niveaustufen (Beginner, Intermediate, Experienced, Advanced, Former Winners) und drei übergreifende Disziplinen (Piobaireachd Urlar, Piobaireachd, Jigs) differenzierte. Zwei Events galten den Quintetts. Aus fünf Bands bildeten sich vierzehn Formationen, die am Samstagabend antraten. Die Dramaturgie des Tages fand mit den Quintetts einen Höhepunkt an entspannter Stimmung, Unterhaltungswert und Publikumspräsenz. Nach der abendlichen Preisverleihung folgte ein Recital der Wertungsrichter. Jenny Hazzard brillierte darin mit einigen der technisch aufwendigsten Stücke, die es in unserem Repertoire gibt (u.a. dem Strathspey „Neil Sutherland of Lairg“ und einem modifizierten Setting von Duncan Johnstones achtteiliger Version des Reels „Charlie’s Welcome“). An den drei Drumming-Competition am nächsten Morgen, die von Helge Johannsson gejudgt wurden, nahmen vier Spieler teil. In zwei Events traten jeweils zwei Wettbewerber an, in dem vierten ein einziger. Ein vergleichbares Bild bot unter den Piping-Events nur der Experienced-Level (mit zwei und einem Teilnehmer) sowie der Beginner-March (mit zwei Spielern). Bei den übrigen Contests lag die Teilnehmerzahl zwischen drei und elf Spielern mit durchschnittlich gut sieben Wettbewerbern pro Event. Für Teilnehmer wie Wertungsrichter stellt dies eine angenehme Gruppengröße dar.

Mir selbst eröffnete das Wochenende einen instruktiven Einblick in die gegenwärtige Szene, nachdem ich gut zwei Jahren Anfragen als Wertungsrichter oder Lehrer konsequent abgelehnt hatte. In Karlsruhe war ich 2003 und 2004 und zuletzt in Weikersheim 2006 als Juror aktiv. Wichtiger als Beschreibungen der einzelnen Wettbewerbe, über welche die separat veröffentlichten Ergebnislisten Auskunft geben, erscheinen mir einige Beobachtungen, die den Wettbewerb und das Niveau im Ganzen betreffen. Besonders drei Entwicklungen zeichnen sich meiner Wahrnehmung nach ab.

Zum einen ist, gerade was die Wettbewerbslandschaft betrifft, eine zunehmende Regionalisierung festzustellen. In den Ludwigshafener Frühjahren und der frühen und mittleren Karlsruher Zeit des BAG-Wettbewerbes vollzog sich eine deutliche Internationalisierung mit Verbindungen nach Dänemark, Schweden, Österreich, die Schweiz und die Niederlande. Die BAG-Competition war der zentrale Anlaufpunkt für erste Wettbewerbserfahrung und die einzige Institution, die in kontinentaleuropäischer Hinsicht etwa der Copenhagen-Winter-Competition vergleichbar war (an deren Wettbewerbsformaten sie sich auch weitgehend orientierte). Das Aufblühen von Wettbewerben auf nationaler Ebene (Niederlande, Österreich, Schweiz) und die Ausdifferenzierung der jeweiligen Wettbewerbslandschaft in regionaler Hinsicht (was für Deutschland in gleicher Weise wie für Dänemark und die Niederlande gilt) verändert auch das Erscheinungsbild der BAG-Competition, die weithin eine süddeutsche Veranstaltung war. Die ehrenwerten Ausnahmen von weiter angereisten Teilnehmern (Hamburg, Hannover und Zürich) wird man an einer Hand abzählen können.

Eine zweite Struktur, die für fast alle Piping-Events des vergangenen Wochenendes gilt, ist die geringe Anzahl von dominanten Spielern auf den jeweiligen Levels. Es gab sie, und es gab sie auf beeindruckende Weise. Aber zugleich gab es nur wenige Performances, bei denen man als Hörer das Gefühl hatte, daß der Spieler oder die Spielerin ihr eigenes Level erreichen, ohne dieses durch einzelne größere oder viele kleinere Fehler zu beeinträchtigen. Auffällig war, wie weit die jeweilige spielerische (technische und musikalische) Entwicklung auf der einen Seite und die Kontrolle über das Instrument oder die Konzentration auf die Gesamtperformance auf der anderen auseinander klafften. In vielen Events ging es in der Ergebnisfindung um ein Abwägen, welche Fehler man wie gewichtet. Schöner für alle Beteiligten ist es, wenn man sich auf die Stärken der einzelnen Performances und deren musikalischen, technischen oder tonalen Wert besinnen kann. Meine eigene Erfahrung ist es, daß es gerade in kleineren Wettbewerben leichter ist, sich durch Fehler gleichermaßen selbst herabzusetzen, da der Gewinn ungleich näher scheint, als bei einem großen Feld. Für die meisten Teilnehmer wird es darum gehen, einerseits praktische Routine in Wettbewerben aufzubauen, anderseits sich gerade damit zunehmend von der Wettbewerbssituation und der Erwartung oder Aussicht auf mögliche Preise zu lösen. Denn nicht um Wettbewerbe oder Preise geht es, sondern um gute Musik.

Eine dritte Beobachtung betrifft das Niveau, das in den obersten Levels des Wochenendes erreicht wurde. In seiner Schlußansprache stellte Colin MacLellan fest, daß sich der Standard und die Qualität des Spielens ständig erhöhten. Mit Blick auf einzelne Spieler, die sich im Laufe der letzten zwei Jahre weiter entwickelt haben, und die wir beide zuletzt bei der Arthur Gillies Memorial 2006 gehört hatten, stimme ich voll und ganz zu. Mit Freude konnte ich hören, wie sich die Instrumente und die spielerische Souveränität einzelner verbessert hatten. Dennoch bleibt etwas zu registrieren, was im Zuge der positiven Entwicklung einzelner und der Szene im ganzen überraschen mag: Das oberste Niveau des Wettbewerbes ist gegenüber dem, das in der Mitte der neunziger Jahre in Ludwigshafen von mehreren Spielern erreicht wurde (u.a. Stefan Bender, William G. Brown, Christoph Kresse, Tim Lethen und David Johnston), gesunken. Mit dem Verlust einer zentralen Wettbewerbsinstanz hat dies sicherlich zu tun sowie mit zahlreichen persönlichen Entwicklungen und Generationswechseln, die sich vollziehen. Aber die Feststellung bleibt: vor gut zehn Jahren standen mehr Spieler an der Schwelle zu professionellen Wettbewerben als heute. Und gerade heute gibt es insgesamt mehr Spieler als damals. Worin die beschriebene Asymmetrie gründet, ist mir ein Rätsel. Im Rückblick auf die neunziger Jahre war der positive Einfluss von Peter Brinckmann auf Spieler, die nicht direkt von ihm unterrichtet wurden und sogar in einem weithin spannungsreichen Verhältnis zu ihm standen, vielleicht größer, als es ihnen bewußt war. Peters zum Teil vernichtende Kritiken von Performances, deren spielerische Güte er selbst nie erreichte, mochten dazu beigetragen haben, das Niveau an der Spitze in einem höheren Maß als heute zu verbreitern.

Wie man mit diesen Entwicklungen umzugehen hat, wird ein zentrales Augenmerk jedes einzelnen, aber auch von Veranstaltern und Verantwortlichen im ganzen sein müssen. Für den Moment bleibt der herzlichste Dank an die Organisatoren, Teilnehmer, Helfer vor Ort und Sponsoren, die mit dem BAG-Wettbewerb für die institutionelle Kontinuität sorgen, aus der so viel erwachsen ist.